Sterben als Lebensaufgabe

Di, 21.11.2017

Tod – Der Hospizverein Gomaringen lud zum hochkarätig besetzten Podiumsgespräch in die Kulturhalle. Fachleute berichteten von Erfahrungen mit Menschen am Lebensende.

GOMARINGEN. Spiegelneuronen im Gehirn könnten die wissenschaftliche Erklärung für Empathie sein: Sie sorgen dafür, dass Emotionen des Gegenübers auch in einem selbst etwas in Bewegung setzen. Von den komplexen Gefühlswelten von Sterbenden und ihren Begleitern berichteten Fachleute am Donnerstagabend vor rund 150 Zuhörern in der Kulturhalle. „Gut sterben – leben bis zuletzt” titelte das Podiumsgespräch, zu dem der Gomaringer Hospizverein anlässlich seines zehnjährigen Bestehens eingeladen hatte.

Einmalige Erfahrung

Für jeden ist das Sterben eine neue, eine einzigartige Erfahrung. „Die ganz große Unbekannte”, wie Susanne Kränzle, Vorsitzende des Landes-Hospiz- und Palliativverbands, formuliert. Wie mit den aufkommenden, fremden Gefühlen umzugehen ist, überfordert viele, weiß Martin Klumpp, Prälat i.R. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir alles können – wir wissen, wie’s geht.” Und plötzlich ist da Ohnmacht.

Rechtzeitige Vorbereitung

„Angst hat jeder”, sagt die Tübinger Palliativärztin Eva-Maria Mörike. Am ängstlichsten seien beim Sterben aber diejenigen, die sich nie damit beschäftigt haben. Sie empfiehlt, sich schon vorher die Frage zu stellen: „Was würde mich belasten, wenn ich morgen sterben würde?” Auch für Menschen, die ihr Leben im Rückblick als sinnlos oder verpfuscht ansehen, sei das Ende besonders schwer zu ertragen. Von außen beim letzten Weg zu begleiten, könne man versuchen. Letztlich aber sei das Sterben Lebensaufgabe eines jeden Einzelnen, die es schon während des Lebens zu lösen gilt. Für Frauen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, könnte die Todessituation etwas leichter zu bewältigen sein, vermutet Susanne Kränzle. Weil Mütter mit der Geburt bereits eine existenzielle Erfahrung gemacht haben. Kränzle aber betont: „Studien habe ich dazu noch nicht gefunden – das ist meine steile These.”

Rückblickende Betrachtung

Wie Loslassen am Ende gelingen kann? Martin Klumpp verdeutlicht ganz anschaulich: „Wenn ich die Sprudelflasche vor mir fallen lassen soll, nehme ich sie erst her und betrachte sie.” Viele, so seine Erfahrung, gehen ihr Leben noch mal durch vor dem Sterben. „Dabei wächst ein Frieden.” Genau genommen, erklärt er, sei das ganze Leben ein ständiger Abschied, vergehe der Moment doch kaum, dass er da sei. Er zitiert aus Goethes Faust: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!”

Gemeinsames Aushalten

„Die meisten wollen leben”, berichtet Palliativärztin Eva-Maria Mörike von ihrer Erfahrung mit Menschen, die vor dem Tod stehen. Weniger als ein Prozent, so rückte sie die Relationen zurecht, wünschten sich explizit einen assistierten Suizid. Bei zu starken Schmerzen oder zu heftigen inneren Kämpfen sei die Gabe von Schmerzmitteln oder angstlösenden Mitteln nötig. Als Medizinerin, gesteht Mörike, sei sie aber auch hin- und hergerissen. „Vielleicht müssten wir manchmal mehr aushalten mit den Sterbenden.” Am wichtigsten sei den Meisten, erklärt Susanne Kränzle, am Ende nicht allein zu sein. „Gut” sterben hält sie für eine schwierige Formulierung. Gehe mit dem Tod doch immer große Traurigkeit, teils auch große Schmerzen einher. Behütet und umsorgt zu sterben, das sei häufig ein großes Bedürfnis.

Erleichtertes Trauern

75 Prozent wünschen sich, Zuhause zu sterben, nur 25 Prozent tun es tatsächlich, weiß Susanne Kränzle. Originäre Hospizarbeit sei aber die Begleitung in den eigenen vier Wänden. Wer als Unterstützer mit am Sterbebett sitzt, könne aus der Situation als „Beschenkter” hervorgehen – Motiv dürfe das aber nicht sein. Angehörige, so Kränzle, brauchen oft eine Idee, wie es „danach” weitergehen kann. Die Hospizarbeit könne dabei helfen und so auch das Trauern etwas erleichtern.

Professionelle Betreuung

Herta Däubler-Gmelin, Schirmherrin des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands, weiß: „Wir sehen Tote lieber im Fernsehen.” Verdrängt werde das Thema inzwischen weniger, vor allem Dank der vielen Ehrenamtlichen, die sich in diesem Bereich engagieren. Ein Erfolg der Politik sei, dass Palliativmedizin inzwischen als Pflichtfach zur Medizinerausbildung gehört. Derzeit setzt sich die ehemalige Bundesjustizministerin dafür ein, dass der Pflegeschlüssel in Alten- und Pflegeheimen und in Krankenhäusern auf Hospiz-Niveau erhöht wird. „Sonst bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke.” (GEA)

Von Claudia Hailfinger, Reutlinger Generalanzeiger, Ausgabe vom 21. Oktober 2017